Anett Jachalski
Ein Erlebnis während des Bibliotheksbesuchs von Vorschulkindern hat mich nachhaltig beschäftigt. Die Kriminalgeschichte zum Mitraten, die ich ausgesucht hatte, war bewusst spielerisch angelegt: genaues Hinschauen, Kombinieren, gemeinsames Überlegen. Umso mehr ließ mich der Moment aufhorchen, als ein Kind den Täter eindeutig im „südlich aussehenden Mann“ sah. Auf meine Nachfrage folgte die Begründung: „Die braune Hand hat die Geldbörse geklaut.“
Dieser Satz wirkte zunächst beiläufig, entpuppte sich jedoch bei weiterer Betrachtung als problematisch. Möglicherweise als verdichteter Ausdruck eines tief verankerten Deutungsmusters. Die Zuschreibung von Schuld erfolgte nicht anhand von Handlung oder Beweisen, sondern über ein vermeintlich sichtbares Merkmal – Hautfarbe. Dass die Hand auf der Illustration keinerlei eindeutige Zuordnung zuließ, war dabei zweitrangig. Entscheidend war die Assoziation: „braun“ gleich verdächtig.
Historisch betrachtet ist dies kein Zufall. Über Jahrhunderte wurden Menschen mit dunklerer Hautfarbe, insbesondere Sinti und Roma, systematisch kriminalisiert und über Sprache zu „typischen Tätern“ gemacht. Begriffe und Bilder dieser Art wirken fort, auch wenn ihre Herkunft nicht bewusst ist. Kinder übernehmen solche Deutungen, nicht aus Bosheit, sondern aus dem, was sie hören, sehen und unausgesprochen lernen.
Die Auflösung der Geschichte – der Täter war Herr Müller – brachte bewusst eine Irritation, die wertvoll war. Gerade Bibliotheken können solche Momente ermöglichen: als Orte, an denen Geschichten nicht nur unterhalten, sondern Denkgewohnheiten sichtbar gemacht und hinterfragt werden. Das Erlebnis hat mir erneut gezeigt, wie früh gesellschaftliche Stereotype greifen – und wie wichtig es ist, ihnen ruhig, sachlich und altersgerecht zu begegnen.

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